Der Vater und der Wehrpflichtige
Zu Beginn des Zweiten Italienischen Unabhängigkeitskrieges im Jahre 1859 hatte ein Kaufmann aus Paris, Familienvater, der bei all seinen Nachbarn sehr angesehen war, einen Sohn, den das Schicksal zum Wehrdienst einberufen hatte. Da es ihm aufgrund seiner Lebenslage unmöglich war, ihn vom Dienst freizustellen, beschloss er, sich das Leben zu nehmen, um ihn als einzigen Sohn einer Witwe davor zu bewahren. Er wurde ein Jahr danach in der Pariser Gesellschaft für spiritistische Studien auf die Bitte einer Person hin gerufen, die ihn gekannt hatte und etwas über sein Schicksal in der geistigen Welt erfahren wollte.
Frage an den Heiligen Ludwig: Würden Sie uns sagen, ob wir den Mann rufen können, von dem gerade die Rede war?
Antwort: Ja, er wird darüber sogar sehr erfreut sein, denn es wird ihn ein wenig erleichtern.
Anrufung.
Antwort: Oh, habt Dank! Ich leide sehr, aber ... ist gerecht; jedoch, er wird mir verzeihen.
Bemerkung: Der Geist schreibt mit großer Schwierigkeit. Die Schriftzeichen sind unregelmäßig und verformt. Nach dem Wort ‘aber’ hält er inne, versucht vergeblich, weiterzuschreiben und macht nur einige nicht entzifferbare Striche und Punkte. Es ist offensichtlich das Wort ‘Gott’, das er nicht schreiben konnte.
Frage: Füllen Sie die Lücke aus, die Sie da eben gelassen haben.
Antwort: Ich bin dessen unwürdig.
Frage: Sie sagen, dass Sie leiden. Sie haben ohne Zweifel Unrecht daran getan, sich zu töten. Aber hat der Grund, der Sie zu diesem Schritt bewogen hat, Ihnen indessen nicht eine gewisse Nachsicht verschafft?
Antwort: Meine Strafe wird kürzer sein, aber die Tat ist deswegen nicht weniger schlecht.
Frage: Könnten Sie uns die Strafe beschreiben, die Sie erleiden?
Antwort: Ich leide doppelt, in meiner Seele und in meinem Körper. Ich leide in letzterem, obwohl ich ihn nicht mehr besitze, wie jemand an einem fehlenden Gliedmaß leidet, das amputiert wurde.
Frage: War Ihr Sohn das einzige Motiv für Ihre Tat und hat kein anderer Umstand Sie dazu bewogen?
Antwort: Nur väterliche Liebe hat mich geleitet, aber sie hat mich fehlgeleitet. Aufgrund dieses Beweggrundes wird mein Leiden verkürzt werden.
Frage: Sehen Sie das Ende Ihres Leidens voraus?
Antwort: Ich kann das Ende nicht absehen. Aber ich habe die Gewissheit, dass es ein Ende gibt, was mich tröstet.
Frage: Sie konnten vorhin den Namen Gottes nicht schreiben. Allerdings haben wir gesehen, wie stark leidende Geistwesen ihn geschrieben haben. Ist das ein Teil Ihrer Bestrafung?
Antwort: Mit großen Anstrengungen der Reue werde ich es tun können.
Nun denn! Strengen Sie sich an und versuchen Sie, es zu schreiben. Wir sind überzeugt, dass es eine Erleichterung für Sie sein wird, wenn es Ihnen gelingt.
Der Geist schreibt schließlich in unregelmäßigen, zittrigen und sehr groben Zügen: "Gott ist sehr gut."
Wir möchten Ihnen danken, dass Sie auf unseren Ruf gekommen sind und werden Gott bitten, Ihnen seine Gnade zu schenken.
Ja, bitte.
Frage an den Heiligen Ludwig: Wie beurteilen Sie die Tat des Geistes, den wir gerade gerufen haben?
Antwort: Dieser Geist leidet zu Recht, denn er hatte kein Vertrauen zu Gott, was immer ein strafbares Vergehen ist. Die Strafe wäre schrecklich und sehr lang gewesen, wenn es nicht einen lobenswerten Anlass zu seinen Gunsten gäbe, nämlich zu verhindern, dass sein Sohn dem Tode entgegengeht. Gott, der in das Innere der Herzen schaut und gerecht ist, bestraft ihn nur nach seinen Taten.
Bemerkung: Auf den ersten Blick erscheint dieser Selbstmord verzeihlich, weil er als eine Tat der Aufopferung angesehen werden kann. Er ist es wirklich, ist es aber nicht völlig. So wie es das Geistwesen des Heiligen Ludwig ausführt, fehlte diesem Mann das Vertrauen zu Gott. Durch sein Handeln hat er vielleicht verhindert, dass sich die Bestimmung seines Sohnes erfüllt. Zunächst ist es nicht sicher, dass dieser im Krieg gestorben wäre, und vielleicht sollte diese Laufbahn ihm die Gelegenheit bieten, etwas zu tun, das seinem Fortschreiten nützlich gewesen wäre. Seine Absicht war zweifellos gut, ihr wird auch Rechnung getragen. Die Absicht schwächt das Böse ab und verdient Nachsicht. Sie hindert jedoch das Böse nicht daran, böse zu sein. Auch könnte man mit Hilfe des bloßen Denkens alle schlechten Taten entschuldigen und sogar unter dem Vorwand töten, damit einen Dienst zu erweisen. Ist eine Mutter, die ihr Kind in dem Glauben tötet, es unmittelbar in den Himmel zu senden, weniger schuldbeladen, weil sie es in guter Absicht tut? Mithilfe dieser Annahme könnte man all jene Verbrechen rechtfertigen, die blinder Idealismus in den Religionskriegen begehen ließ.
Im Grunde hat der Mensch kein Recht, über sein Leben zu verfügen, da es ihm ja im Hinblick auf die Pflichten gegeben worden ist, die er auf Erden erfüllen sollte. Darum darf er es nicht freiwillig unter irgendeinem Vorwand verkürzen. Da er seinen freien Willen hat, kann ihn keiner daran hindern, aber er muss immer die Folgen tragen. Der am strengsten bestrafte Selbstmord ist jener, der aus Verzweiflung begangen wird und in der Absicht, sich vom Elend des Lebens zu befreien. Da dieses Elend gleichzeitig eine Prüfung und eine Sühne ist, bedeutet es, sich ihnen zu entziehen, vor der Aufgabe zurückzuschrecken, die man übernommen hatte, manchmal sogar von der Mission, die man erfüllen sollte.
Der Selbstmord besteht nicht nur aus der freiwilligen Handlung, die den sofortigen Tod herbeiführt. Er liegt auch in allem, was man bewusst tut, um das Erlöschen der Lebenskräfte vorzeitig zu beschleunigen.
Selbstmord darf man nicht mit der liebevollen Aufopferung eines Menschen vergleichen, der sich einem drohenden Tod aussetzt, um einen anderen Menschen zu retten. Zunächst, weil in diesem Fall keine wohlüberlegte Absicht vorliegt, sich das Leben zu nehmen, und zweitens, weil es keine Gefahr gibt, aus der uns die Vorsehung nicht herausziehen könnte, falls die Stunde, die Erde zu verlassen, noch nicht gekommen ist. Tritt der Tod unter solchen Umständen ein, so ist er ein verdienstvolles Opfer, das erbracht wird, denn er ist eine Selbstverleugnung zum Vorteil eines Anderen. ("Evangelium aus der Sicht des Spiritismus", Kap. 5, Nr. 53, 65, 66 und 67).